Wir alle haben Vorstellungen darüber, wie Kinder sind, was Kindsein ausmacht, wie Kinder sich verhalten sollten, wie man die Entwicklung von Kindern fördern kann, was schädlich ist. Diese Vorstellungen sind verknüpft mit Annahmen darüber, was eine Familie ist und welche Rolle sie für die Entwicklung von Kindern spielt. Diese Vorstellungen, unsere Bilder vom Kind und von Familie sind in unserem Menschenbild verankert – und das ist kulturell geprägt und definiert.
Auch wissenschaftliche Theorien sind kulturell geprägt, denn auch Wissenschaftler handeln und forschen im Rahmen ihrer Menschenbilder. Die Bindungstheorie, die verbreiteteste Theorie zur sozial emotionalen Entwicklung, macht da keine Ausnahme. Sie basiert auf dem Bild vom Kind und Familie in der westlichen Welt der Nachkriegsgeneration, wie die Wissenschaftshistorikerin Marga Vicedo schlüssig aufgewiesen hat.
In diesem Vortrag werden die grundlegenden Annahmen der Bindungstheorie kritisch reflektiert und im Hinblick auf Kulturspezifität analysiert. Dazu werden Forschungsbefunde aus der Kulturanthropologie und Kulturpsychologie/kulturvergleichenden Psychologie herangezogen.
Die Bindungstheorie leitet ihren Universalitätsanspruch aus der evolutionären Theorie ab. Auch hier ist eine kritische Reflektion notwendig, da die Definition einer fixen, kontextunabhängigen Verhaltensqualität nicht mit evolutionären Annahmen vereinbar ist.
Diese Überlegungen haben weitreichende Implikationen für Wissenschaft und Praxis. Aus wissenschaftlicher Perspektive müssen Theorien und Befunde kontextualisiert werden, d.h. es gibt nicht den einen gesunden Entwicklungspfad und mögliche Abweichungen, wie derzeit in unseren Lehrbüchern dargestellt, sondern unterschiedliche Entwicklungspfade mit jeweils eigener Logik. Aus einer Anwendungsperspektive bedeutet dies, dass die gängige Praxis der Anwendung der westlichen Psychologie und Pädagogik auf alle Menschen nicht nur möglicherweise wirkungslos, sondern auch oftmals schädlich sein kann. Die implizierten ethischen Fragen werden diskutiert.